Am sechsten Spieltag der 2.?Liga verlor der 1.?FC Nürnberg sein Heimspiel gegen den MSV Duisburg sang- und klanglos mit 0:1 und rutschte auf den 14. Tabellenplatz ab. Das Gegentor fiel bereits in der 23. Minute, anschließend ging nicht mehr viel zusammen. Nun hat es in der Vergangenheit bereits Spiele gegeben, in denen Heimmannschaften einen solchen Rückstand noch gedreht haben, mit eigener Leidenschaft und der Unterstützung des Publikums. Nicht so jedoch an diesem Abend in Nürnberg, denn die Ultras in der Nordkurve des Frankenstadions schienen wenig interessiert am Treiben auf dem grünen Rasen. Sie schwiegen zu Spielbeginn zunächst 20 Minuten lang und sangen dann bis zum Abpfiff eine einschläfernde Endlosmelodie – als Protest gegen die Montagsspiele im DSF und fanfeindliche Anstoßzeiten.
Vielleicht nur eine Momentaufnahme. Vielleicht aber auch ein weiterer Beleg für die Vermutung, dass die Fankultur in deutschen Stadien inzwischen ziemlich auf den Hund gekommen ist. Denn der deprimierende Abend in Nürnberg zeigte exemplarisch, wie weit sich der Support in vielen Kurven bereits vom ursprünglichen Sinn und Zweck eines Fanblocks entfernt hat, nämlich die Mannschaft zu unterstützen, der viel beschworene 12. Mann zu sein. Und vielleicht noch schlimmer: Von der Wildheit, der Anarchie, der Spontaneität, die die Fanblöcke über Jahrzehnte hinweg auszeichneten, ist im Herbst 2008 nicht mehr viel übrig geblieben. Stattdessen trifft sich jeden Samstag auf den Stehrängen ein gut gedrillter Männerchor und wartet auf seinen Dirigenten. Staatsoper statt Punkrock.
Natürlich hat diese Entwicklung viele Ursachen. Sie hat zu tun mit den antiseptischen Stadien, in denen Profifußball heutzutage stattfindet. Und auch die Klubs haben dazu beigetragen, weil sie immer noch nicht begreifen wollen, dass Fußball kein Musical ist, kein Starlight Express auf grünem Rasen. Und trotzdem: Schuld an der Misere sind nicht nur der moderne Fußball, der verdammte Polizeistaat und skrupellose Vereine, sondern eben auch jene, die einmal antraten, um die Fankultur zu retten: die Ultras.
Doch der Reihe nach: Es ist noch nicht allzu lange her, da orientierten sich deutsche Anhänger auf der Suche nach Inspiration traditionell nordwestlich, die britische "terraces" waren das Vorbild hiesiger Fankurven. Bis zur Mitte der 90er Jahre setzten sich Moden, die der "Kop" in Liverpool oder Chelseas "Shed End" vorlebten, mit Verzögerung auch in Hamburg, Düsseldorf und Nürnberg durch. Wie binde ich meinen Schal, welche Lieder singe ich, wie schaue ich Fußball, das das schauten sich die deutschen Kurven seit den 60er Jahren vorwiegend von den englischen Lads ab. Vor allen aber importierten sie das egalitäre Prinzip, dass im Fanblock keine Anführer gewählt werden, alle waren gleichberechtigt und gleichverantwortlich für die Unterstützung des Klubs. Fiel jemandem etwas Witziges ein, rief er es. Wenn er Glück hatte, fanden andere das ebenso lustig und am Ende brüllte es die ganze Kurve. So lief es früher.
Seit 1997 jedoch haben sich die Verhältnisse radikal geändert. Begünstigt durch den langsamen Nidergang der englischen Fankultur, befeuert aber vor allem durch die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs, entdeckten deutsche Anhänger die italienische "Curva" als neues Vorbild. Die Ultras in Rom, Neapel, Livorno hatten mit dem traditionellen Bild der eher statischen deutschen Kurven wenig gemein. Waren die Fanblöcke hierzulande eine bunte Mischung unterschiedlicher Fanklubs und Einzelpersonen, präsendtierten sich die italienischen Anhänger schon damals als homogene, hierarchisch organisierte und von sogenannten "Capos" geführte Großgruppen, die im Fanblock nicht nur sangen und klatschten, sondern auch gerne auch mal kollektiv unterhakten und quer durch den Block schunkelten. Und was den deutschen Fans vielleicht noch mer imponierte: Viele italienische Kurven waren autonom und wurden von den Ultras selbst verwaltet, in Deutschland, dem Land der Fahnenpässe, eine überaus verlockende Vorstellung.
So befremdlich die neue Kultur auf alteingesessene Anhänger wirken mochte, der Siegeszug der Ultras schien zunächst die logische, einzige mögliche Reaktion der Fans auf eine zunehmend kommerzialisierte und restriktive Fußballwelt zu sein. Denn Vereine und Polizei hatten in den Jahren zuvor jede nur erdenkliche Anstrengung unternommen, um die aktiven Fans den Aufenthalt im Stadion gründlich zu verleiden. Lückenlose Überwachung durch unzählige Kameras, willkürliche Stadionverbote, brachiale Dauerbeschallung mit Rummelplatzmusik, die jedes Einsingen vor dem Spiel verhinderte, Fahnenpässe, flächendeckende Verkleinerung der Stehplatzareale, man könnte noch zwei, drei Stunden so fortfahren ohne sich zu wiederholen.
Dagegen setzten die Ultras ein selbstbewusstes Zeichen. Wollten fortan nicht mehr diejenigen sein, die freudig mitsingen, wenn die Stadionregie "I will survive" von der Hermes House Band durchs Stadion dröhnen ließ. Und wollten sich abgrenzen, von jenen, die getrieen in den nächsten Fanshop rennen, wenn der eigene Klub die siebte Away-Kollektion der laufenden Saision herausgebracht hatte. Stattdessen formulierten die Ultras einen Frontalangriff auf die bestehenden Zustände: Wir sind der Verein. Spieler kommen und gehen, Vorstände demissionieren, wir Anhänger jedoch stehen ein Leben lang zum Verein. Das war zwar ziemlich pathetisch formuliert, traf aber den Nerv vieler frustierter Anhänger. Denn damit gingen die Ultras noch einen Schritt weiter als die Fanzine-Generation, die Anfang der 90er Jahre mit ihrem Kampf gegen Versitzplatzung un den Rassismus auf den Rängen den Diskurs in den Stadien dominiert hatte.
Ausgehend vom Frankfurter Waldstadion, wo sich 1997 mit den "Ultras Frankfurt" die erste ernstzunehmende deutsche Ultragruppe gründete, schossen in den Folgejahren in nahezu allen großen Stadien der Republik Gruppen nach italienischem Vorbild aus dem Boden und übernahmen in Windeseile die Lufthoheit in den meisten Kurven. Manch eher traditionell gesinnte Fanklub beäugte die neue Mode zwar kritisch, die überkommene Kuttenkultur mit ihren Fanklubs hatte dem Korpsgeist, dem Gestaltungswillen und dem Bewegungsdrang der Ultras aber wenig entgegenzusetzen. Wie altmodisch wirkten Jeanskutten und Aufnhäher gegen die dynamische und smarte Ultraskultur.
Zumal nun vorher nicht Gesehenes auf den Rängen passierte. Wo es früher oft nicht einmal Haupttribüne und Kurve hinbekamen, den Heimatverein einigermaßen einstimmig anzufeuern, warfen sich plötzlich die tribünen perfekt getimte Wechselgesänge zu, hüpfte ein ganzer Fanblock im Wiegeschritt und sangen die Fans gar mehrstrophige Lieder, wo der Anhang früher schon beim ersten Relativsatz dezent ins Schwitzen kam. Das war neu und aufregend und die einzige Frage, die sich Anhänger in den ersten Jahren stellten, war folgende: Warum haben wir das eigentlich nicht schon immer so gemacht?
Doch was zunächst daher kam wie ein offenes System, wie ein verlockenedes Angebot an die Fans aller Couleur, mehr zu tun als nur zu singen und in die Hände zu klatschen, ist inzwischen weitgehend erstarrt, in strengen Hierarchien, merkwürdigen Ritualen, kindischen Diebstählen und jenem viel beschworenen Kampf "gegen den modernen Fußball", der für so ziemlich alles verantwortlich gemacht wird, was seit Fritz Walter im deutschen Fußball schief gelaufen ist.