Vor 30 Jahren - der Mord an Andres Escobar

  • Quelle: welt.de (gekürzt)


    Für ihn war Fußball sein Leben – und sein Tod


    Für Escobar war Fußball sein Leben – und sein Tod. Am 22. Juni 1994 bugsierte Kolumbiens Kapitän beim 1:2 im WM-Gruppenspiel gegen Gastgeber USA den Ball zum 0:1 ins eigene Netz. Zehn Tage später starb er im Kugelhagel.Warum musste Escobar sterben? Sicher ist nur, dass er in einer Zeit, in der in Kolumbien Kugeln das stärkste Argument waren, einem Wortgefecht nicht ausweichen wollte. Mit großer Wahrscheinlichkeit war der Mord aber geplant. Denn sein Eigentor hatte die Wettmafia zig Millionen Dollar gekostet.




    Geldwäsche

    Fast jeder Klub hatte Ende der 70er- sowie in den 80er- und 90er-Jahren seinen Patron, der hinter den Kulissen die Fäden zog, die Klubs aufrüstete, Talente einkaufte oder verkaufte, Schiedsrichter mit Drohungen und Geschenken bestach – oder sie aus dem Weg räumen ließ. In Medellín entwickelte Drogen-Boss Pablo Escobar bei Erstligist Atlético Nacional sein „Geschäftsmodell“. Er ließ das schmutzige Geld aus dem weltweiten Kokainhandel mit gefälschten Bilanzen beim Ticketverkauf und mit Spielertransfers reinwaschen. Um Nachwuchs für seinen Klub zu finden, wandelte er in allen Stadtvierteln brachliegende Gelände in staubige Fußballfelder um. Eines dieser Talente war Andrés Escobar, Sohn eines betuchten Bankiers. Als Kind war er ein disziplinierter Schüler, ging zur weiterführenden Schule. Sein Vater Dario wollte, dass sein Junge einen ehrenwerten Beruf erlernt. Anwalt etwa. Doch er förderte seinen Filius auch als Fußballer, der 1988 Nationalspieler wurde. Mit seinen 1,84 Metern Länge kommandierte der Linksfuß zentral die Abwehr. Robust, aber nie unfair, stoppte er die Gegner. Er war dann wie im Stile eines Franz Beckenbauers aufrecht und mit Ball am Fuß der Antreiber von hinten heraus, was ihm auch wegen seiner guten Manieren den Spitznamen „El Caballero” (Ehrenmann) einbrachte. Auffallend zudem: Stets spielte er mit der Nummer 2 auf dem Trikot.


    Spielball der Drogenkartelle

    Andrés Escobar war auch als Anführer dabei, als Kolumbien unter Trainer-Guru „Pacho“ Maturana wieder Erfolge feiern durfte. Die Südamerikaner meldeten sich 1990 in Italien nach 28 Jahren Abstinenz auf der WM-Bühne zurück und reisten 1994 sogar als Geheimfavorit zur Endrunde in den USA. Denn in 18 Spielen war die „Selección“ 1993 ungeschlagen geblieben, sie hatte sich nur Argentinien beim Halbfinale der Copa América im Elfmeterschießen beugen müssen. Hinzu kamen neue Talente, die schon in Europa spielten und für Aufmerksamkeit sorgten: Faustino Asprilla (AC Parma), Sechster bei der Weltfußballer-Wahl 1993, oder Adolfo Valencia, der bei Bayern München spielte.

    Aber Kolumbiens Nationalmannschaft wurde im heißen US-Sommer 1994 zum Spielball der Drogenkartelle. Obwohl Paramilitärs Pablo Escobar wenige Monate zuvor ein tödliches Ende gesetzt hatten, dominierte sein Medellín-Kartell mit sechs Atlético-Spielern den WM-Kader. Die Brüder Miguel und Gilberto Rodríguez Orejuela, ärgste Rivalen im Drogen-Geschäft, wollten dagegen ihre fünf Akteure von América de Cali in der Startelf sehen.

    Vergeblich versuchte sich die Nationalmannschaft vor der Einflussnahme von außen abzuschirmen. Doch irgendwann geriet alles außer Kontrolle. Kolumbien verlor 1994 überraschend seinen WM-Auftakt gegen Rumänien 1:3. Viele hatten Geld verloren, weil sie auf die Kolumbianer gesetzt hatten. In Medellín starb der Bruder von Verteidiger Luis Herrera bei einem Autounfall mit einem Minibus, bei dem es noch weitere Tote gab. Das ganze Team erhielt Morddrohungen, sogar eine Hexe rief an und verfluchte mehrere Spieler.


    Anspannung und Angst

    Gegen die USA, gegen die noch nie verloren wurde, musste ein Sieg her. Doch zu einer normalen Spielvorbereitung kam es nicht mehr. Weil die Drohungen aus der Heimat nicht abnahmen. Die schlimmste erhielt Trainer Maturana per Telefon: „In deinem Haus und im Haus von Gabriel Gómez (Mittelfeldspieler; d. Red.) haben wir Bomben gelegt. Die zünden wir, wenn du ihn spielen lässt.“ Die gleiche Nachricht bekamen die Spieler auf ihren Zimmern zu lesen. Irgendwer hatte die TV-Bildschirme im Hotel geknackt.


    Als Andrés Escobar zu seinem 50. Länderspiel auf den Platz lief, war sein sonst so gewohntes Lächeln aus dem Gesicht verschwunden. Nervosität, Anspannung und Angst hatten auch seine Mitspieler ergriffen. Am Morgen hatte er noch, wie an jedem Tag fernab der Familie, einen Psalm gelesen. In der Bibel waren auch zwei Fotos. Eines von seiner Verlobten Pamela und eines von seiner Mama Beatriz, die 1985 an Krebs verstorben war. Sie hatte ihn als Kind jeden Tag in die Messe mitgenommen

    Geholfen hat es nicht. Es lief die 34. Minute gegen die USA. Die Kolumbianer hatten den Ball unnötig im Mittelfeld verloren, der dann zu John Harkes auf die linke Seite kam. Der Mittelfeldspieler suchte mit einem Flachpass Earnie Stewart. Escobar spürte den Mittelstürmer einschussbereit im Rücken, grätschte in die Hereingabe und lenkte sie unglücklich vom Elfmeterpunkt unhaltbar ins eigene Netz ab. Torhüter Córdoba war schon in die andere Ecke unterwegs und sank wie von einer Kugel getroffen rücklings zu Boden. Escobar, der sein einziges Tor im gelben Nationaltrikot gut sechs Jahre zuvor beim 1:1 gegen England im Wembley-Stadion erzielt hatte, griff sich mit beiden Händen an den Kopf, stand dann mit versteinerter Miene auf. „In diesem Moment sagte mein neunjähriger Sohn: Mama, sie werden ihn töten“, berichtete später Escobars Schwester María Ester dem Sender CNN im Interview. Zumal das Spiel gegen die USA verloren ging. Das 2:0 im letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz war wertlos – und das Orakel seines Neffen sollte zehn Tage später blutige Wahrheit werden.


    Schweigeminute für den Kolumbianer

    Trotz aller Drohungen und Warnungen wollte er nach der WM-Schmach schnell nach Hause, zurück zur Familie. Als Escobar am 29. Juni in Medellín landete, veröffentlichte die Tageszeitung „El Tiempo“ seine letzte Zeitungs-Kolumne. Escobar schrieb: „Das Leben endet hier nicht. Wir müssen weitermachen. Das Leben kann hier nicht enden. Wie schwer es auch sein mag, wir müssen wieder aufstehen. Wir haben nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir lassen zu, dass uns die Wut lähmt und die Gewalt weitergeht, oder wir überwinden uns und versuchen unser Bestes, um anderen zu helfen. Es ist unsere Entscheidung. Lassen Sie uns bitte Respekt bewahren. Meine herzlichsten Grüße an alle. Es war eine höchst erstaunliche und seltene Erfahrung. Wir werden uns bald wiedersehen, denn das Leben ist hier nicht zu Ende.“


    Eine Fehleinschätzung, wie sich keine 100 Stunden später herausstellte. Es war der 2. Juli. Es war 3.45 Uhr, als Escobar die Disko Pádova verließ. Er schritt die wenigen Meter rüber zum Parkplatz der bereits geschlossenen Bar „El Indio“, wo er im Auto von zwei Personen angesprochen wurde. Plötzlich kam eine dritte Gestalt hinzu und gab ohne Vorwarnung sechs Schüsse aus kurzer Nähe ab, dabei schrie er bei jedem Knall „Golazo“, übersetzt Traumtor, in Anspielung auf Escobars Eigentor in der Partie gegen die USA.


    Augenzeugen zogen den reglosen Körper Escobars in ein Taxi, das ihn zur Clínica Medellín ins Zentrum der Stadt brachte. „Es ist Andrés“, riefen die Helfer. Doch die Ärzte konnten nur noch seinen Tod feststellen.


    43 Jahre Haft


    Die Schreckensnachricht machte in Windeseile die Runde. Die Polizei suchte die Täter, die Medien überschlugen sich mit ihren Schlagzeilen. Hatte die Wettmafia ihn in eine Falle gelockt, um sich für die Millionenverluste wegen des frühen WM-Ausscheidens Kolumbiens zu rächen? Oder waren es nur Schüsse nach einem Streit wegen des Eigentores bei der WM? Humberto Muñoz Castro wurde wenige Tage später als Todesschütze verhaftet. Er war Chauffeur von Santiago und Pedro David Gallón, beide mit engen Verbindungen zu Drogenkartellen. Kolumbiens Justiz verurteilte Castro wegen des Mordes zu 43 Jahren Haft, die nach zehn Jahren wegen guter Führung vorzeitig endete. Die Gallón-Brüder erhielten 15 Monate Gefängnis wegen Falschaussagen, zahlten aber eine Kaution und blieben auf freiem Fuß.

    Der Mord an Escobar sorgte für große Trauer im Land. Seine Beerdigung wurde von rund 120.000 Menschen begleitet. Fans bringen noch heute Fotos von ihm zu Spielen mit. Im Juli 2002 errichtete ihm die Stadt Medellín ein Denkmal.

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