Als Schalke Fans über Transfers abstimmen durften

  • Die Story ist echt gut.


    Stichtag 8. März 1975. Vor 49 Jahren lässt Schalke 04 über die Verpflichtung eines WM-Stars im Parkstadion abstimmen. Wer kennt diesen Wunsch als mitfiebernder Fan nicht? Einmal bei der Transferpolitik des eigenen Clubs mitentscheiden dürfen, zumindest nach seiner Meinung gefragt werden. Vor dem Heimspiel der Königsblauen gegen Bayern München am 23. Spieltag der Saison 1974/1975 geht Präsident Günter Siebert genau diesen Weg. Er bringt 30.000 Stimmzettel ins an diesem Tag mit 70.300 Zuschauern ausverkaufte Parkstadion, um über Francisco Marinho abstimmen zu lassen.


    Der 23-Jährige ist linker Verteidiger der Nationalmannschaft Brasiliens, die im Vorjahr bei der Weltmeisterschaft in Deutschland angetreten ist. Die „Selecao“ kann ihren 1970 errungenen Titel nicht verteidigen, aber Marinho bleibt in Erinnerung - aus zwei Gründen:


    Noch heute sind viele im Land des fünffachen Weltmeisters der Meinung, dass das Team von 1974 zwar kein Spektakel bietet, die Defensive jedoch die beste gewesen sei, die Brasilien je zu einem Turnier geschickt habe. Vor allem aber erinnert man sich in Deutschland an Marinho, weil der Blondschopf einfach ein gutaussehender junger Mann ist, in Deutschland den Status eines Popstars erringt. So gewinnt er einen „Silbernen Otto“ in einer Popularitätskategorie der damals ungeheuer auflagenstarken Teenie-Zeitschrift „Bravo“.


    Entsprechend groß ist das Aufsehen, als Marinho zum Spiel gegen die Bayern in einem leuchtend roten Anzug als Ehrengast ins Parkstadion kommt. Vom ersten Schritt an wird er von Autogrammjägern in Manndeckung genommen.


    Bisher ist Hannes Bongartz mit 777.000 Mark Ablöse, die an Wattenscheid 09 gingen, Schalkes Rekordeinkauf. Marinhos Wert wird auf 1,5 Millionen Mark beziffert. „Nicht zu viel“, findet Siebert und signalisiert sofort Interesse, als „Mittelsmänner“ den Spieler von Botafogo CfR anbieten. Schalkes Präsident glaubt, den Preis mit seinem Verhandlungsgeschick drücken zu können: „Wir Schalker sind gute Kaufleute! Mehr als eine Million Mark werden wir nicht auf den Tisch legen.“


    Gegenwind gibt es von den Schalker Schatzmeistern Hans Lehmann und Willy Rohmann. „Wir haben eine Million Mark Schulden, da ist eine solche Verpflichtung ein finanzieller Drahtseilakt“, hält Lehmann dagegen. Also erhofft sich Siebert das Votum des Publikums. „Schalkes Zuschauer erwarten immer wieder etwas Neues von uns.“


    So sollen die Fans zwei Fragen mit Ja oder Nein beantworten. „Soll Marinho gekauft werden?“ und „Soll der Verein dafür einen Zuschlag bei den Eintrittskarten nehmen?“ Zwar verbreiten Befürworter des Transfers eilig erste Hochrechnungen, wonach der „Trend“ nach Zustimmung in beiden Fragen aussehe, doch schon bald tauchen Zweifel auf. In der Nordkurve wird ein angeblich ein Transparent gesehen: „Marinho her – wir zahlen mehr“, aber schnell wieder eingerollt. Der Beifall von den Rängen bei seiner Vorstellung auf dem Rasen fällt eher spärlich aus. Dort begrüßt ihn Schalkes Kapitän Helmut Kremers sehr freundlich - doch genau auf dessen Position soll Marinho spielen. „Sicher der Junge ist klasse, ein Draufgänger“, findet Schalkes rechter Verteidiger Jürgen Sobieray. „Aber ob er einen von uns verdrängen wird, ist die große Frage. Ich finde, wir haben genug Leute.“


    Nach dem 2:2, bei dem die Schalker eine 2:0-Führung durch Klaus Fischer (15./Handelfmeter) und Helmut Kremers (35.) aus der Hand geben, weil Gerd Müller noch ein Doppelpack gelingt (74., 83.), zeigt sich Marinho sehr motiviert, künftig im Parkstadion zu spielen: „Schalke hatte es in der Hand gehabt, zu gewinnen. Ich kann mich hier gut einfügen und sehr nützlich sein, weil ich nicht nur die Defensive beherrsche, sondern mich auch nach vorn einschalte.“


    Als am Montagmorgen die Stimmzettel aus den Urnen ausgezählt werden sollen, sind die Behälter geleert. Die Müllabfuhr hat anscheinend den Inhalt entsorgt. Gefunden werden lediglich 450 Stimmzettel in einem separaten Pappkarton. Angeblich sind Siebert, Vorstandsmitglied Heinz Aldenhoven und Mannschaftsbetreuer Ede Lichterfeld sogar noch nach Erle auf die Kippe gefahren und haben den Müll durchsucht. Siebert: „Jetzt werden wieder alle über uns lachen.“


    Intern lacht aber niemand. Während der Vorstand mit einer Gegenstimme (Schatzmeister Lehmann) für die Verpflichtung ist, schiebt der Verwaltungsrat dem Transfer einstimmig einen Riegel vor, hört sich nicht einmal die konkreten Zahlen an. Daraufhin droht Präsident Siebert vor der anstehenden Mitgliederversammlung (wieder einmal) mit Rücktritt: „Ich kann mit diesem Verwaltungsrat nicht mehr zusammenarbeiten! Marinho hat Dienstag mittrainiert, hat den Eindruck eines Weltklassemannes hinterlassen. Er ist so gut aufgenommen worden, dass ihn Erwin Kremers gleich in seinen Pub eingeladen hat.“


    So muss Marinho unverrichteter Dinge weiterziehen. Einen Vertrag bei einem europäischen Club wird er erst zum Ende seiner Laufbahn unterschreiben: in der Saison 1987/1988 beim Amateurverein BC Harlekin Augsburg. Am 1. Juni 2014, kurz vor Beginn der WM in seinem Heimatland, stirbt Francesco Marinho im Alter von 62 Jahren.

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