Zwar nicht ganz aktuell aber interessant!
»Gerechtigkeit, nicht Freiheit«
Zehn Jahre Haft wegen versuchten Mordes lautete das Urteil gegen einen Fan von Roter Stern Belgrad. Während die serbische Öffentlichkeit über die Strafhöhe heftig diskutiert, protestiert der Fanklub »Delije« mit allen Mitteln.
Als der Vorsitzende seine Entscheidung verkündete, gingen im Gerichtssaal die Wogen hoch. Mutter und Schwester des angeklagten 20-jährigen Uros Misic brachen in Tränen aus. Anwesende Fans von Roter Stern Belgrad beschimpften das fünfköpfige Richtergremium: »Schämt euch, wie viel haben sie euch dafür bezahlt?« Doch die Polizei erstickte den Protest schon im Keim, nahm die Unruhestifter noch vor Ort fest und steckte manche von ihnen gar für 30 Tage in Gewahrsam. Mit dem Urteil vom 19. September 2008 hat der serbische Staat seine Härte demonstriert: Uros Misic soll für zehn Jahre ins Gefängnis, wegen versuchten Mordes an einem Zivilpolizisten.
Dramatische Bilder
Von Anfang an standen die Chancen auf ein mildes Urteil für Misic schlecht. Denn die Ereignisse vom 2. Dezember des Vorjahres waren landesweit im Fernsehen übertragen worden und hatten den Ruf nach drakonischen Maßnahmen erschallen lassen. Beim Heimspiel von Roter Stern Belgrad gegen Hajduk Kula war der Zivilpolizist Nebojsa Trajkovic in der Heimkurve der »Delije«, dem führenden Fanklub von Roter Stern, von den Fans dabei entdeckt worden, wie er sie heimlich mit einer Videokamera filmte.
Daraufhin attackierten Misic und einige andere Fans den Polizisten mit bengalischen Feuern und fügten ihm schwere Brandwunden und Verletzungen zu. Im serbischen Fernsehen, dessen Ausschnitte sehr bald auch YouTube erreichten, waren die Szenen kurz nach dem Angriff zu sehen. Ein offensichtlich schwer verwirrter und gezeichneter Trajkovic wankt halbnackt mit einer Pistole in der Hand durch den Sektor. Beim Versuch, einen der Angreifer festzuhalten, wird er neuerlich getreten und mit Fackeln beworfen. Nur knapp kann der Zivilpolizist aus der Kurve entkommen, bevor das behelmte Sonderkommando einmarschiert und eine heftige Massenschlägerei mit der verbliebenen »Delije« ausbricht.
So wenig die Fernsehbilder für ihn sprachen, so wenig half Misic seine eigene Aussage vor Gericht. Er sei erst hinzugekommen, als andere Fans bereits auf Trajkovic losgegangen waren, und Leute in seiner Umgebung hätten davon gesprochen, dass es sich bei dem Angegriffenen um ein Mitglied der »Grobari« von Partizan Belgrad handelt. »Ich habe erst im Fernsehen erfahren, dass es ein Polizist war.«
Lange Feindschaft
Die »Delije« und die Ordnungshüter des Staates verbindet jedoch eine jahrzehntelange Feindschaft, die nicht erst jetzt in einen gewalttätigen Konflikt mündete. Gegründet 1989, versammelte die »Delije« vor allem Gegner des sozialistischen Jugoslawien und seiner Vertreter. Bei den späteren Demonstrationen gegen die Regierung Milosevic dienten die Fans von Roter Stern als rabiate Formation der Oppositionsbewegung. Während viele der damaligen Teilnehmer ihren Weg ins Parlament oder an die Schalthebel der neuen Gesellschaft fanden, blieb die »Delije« in der Kurve und liefert sich weiterhin einen Kleinkrieg mit der Polizei, den »Grobari« und den Kluboffiziellen von Roter Stern.
Viele Roter-Stern-Fans sehen Misic als einen Sündenbock, der nun dafür büßen muss, was außerhalb der Spielfelder in den letzten Jahren vorgefallen ist. Der unrühmliche Höhepunkt dieser Entwicklung ereignete sich im April dieses Jahres, als ein Anhänger von Vojvodina Novi Sad bei einer Schlägerei mit Partizan-Fans erschossen wurde.
Dabei fehlt es nicht an drastischen Gesetzen: Schon seit fünf Jahren ist eine Regelung in Kraft, die für gewaltsame Aktionen im Stadion Haftstrafen von drei Monaten bis fünf Jahren vorsieht. Da es aber kaum zu Verurteilungen kam, wollte man mit dem Prozess gegen Misic jetzt offenbar nachholen, was nach Ansicht von Sportminister Aleksandar Sostar bisher versäumt wurde: »In den meisten Fällen verhaftet die Polizei die Verdächtigen, aber dann wird alles verschleppt.«
Aufsehenerregende Aktion
Die »Delije« wollen das Urteil auf keinen Fall akzeptieren. Ganz Belgrad wurde mit Graffitis überzogen, die Parole »Gerechtigkeit für Uros« (»Pravda za Urosa«) ist landesweit bekannt. Auch weil die Spieler von Roter Stern nur einen Tag nach dem Prozess mit diesem Spruch und dem Konterfei von Uros Misic auf der Brust zu ihrem Spiel gegen den Jagodina FC aufliefen. Die Strafe des Verbandes hätte höher nicht ausfallen können: 11.500 Euro für den Klub und 2.300 Euro für jeden beteiligten Spieler, die Höchststrafe laut den Ligastatuten.
Auf der Suche nach einem Verantwortlichen umstellte die Polizei Kabinen und Büros. Doch weder Präsident Tanasijevic, der nach eigenen Angaben kurz davor von Unbekannten bedroht worden war, noch die Spieler gaben eine Aussage zu Protokoll. Zusätzlich heizte ein Transparent der »Delije« die Stimmung an: »Lazovic, die Gerechtigkeit, die du sprichst, bekommst du zurück« – eine unmissverständliche Botschaft an den Vorsitzenden des Richterkollegiums beim Misic-Prozess.
Seit der Urteilsverkündung sind 41 Bombendrohungen gegen den Belgrader Justizpalast eingegangen. Eltern und Großeltern von Uros Misic drohen ebenfalls: mit einem Hungerstreik vor dem Gericht, sollte das Urteil aufrecht bleiben. Mutter Misic will sich sogar »wie Jan Hus« öffentlich selbst verbrennen, wenn ihrem Sohn keine Gnade gewährt wird.
Politisches Justizsystem
Während Serbien einige seiner Staatsbürger zur Aburteilung internationalen Gerichtshöfen überlässt, sehen viele Kommentatoren der serbischen Presse in dem Richterspruch einen Beleg für ein durch und durch zerrüttetes Justizsystem. Und eines, das bei der Bestrafung von Fans nach politischen Vorgaben agiert. Dabei steht die Schuld des Angeklagten außer Frage – selbst die »Delije« fordern auf ihrer Internetseite in neun Sprachen »Gerechtigkeit, nicht Freiheit« für Uros Misic.
Doch das Ausmaß der Strafe und der Vorwurf des versuchten Mordes ist Teilnehmern des Prozesses ebenso unverständlich wie Juristen. Misics Anwalt Jovan Pavlovic meinte nach der Urteilsverkündung, noch nie in seiner 34-jährigen Laufbahn habe er derartiges erlebt. Mehrere Mitglieder der serbischen Anwaltskammer kündigten an, aus Protest ihr Amt zurückzulegen, sollte das Berufungsverfahren die zehn Jahre Haft für Misic bestätigen. Und die angesehene Zeitung Politika brachte einen Prozess gegen einen anderen Jugendlichen ins Spiel, der für die Ermordung eines Mitschülers lediglich fünfeinhalb Jahre Gefängnis erhalten hatte. Sollte das Urteil gegen Misic in der geforderten Höhe bestätigt werden, hätte er nach Absitzen der Strafe ein Drittel seines Lebens im Gefängnis verbracht.