Von Drogendealer zum erfolgreichsten Trainer Schottlands

  • Coole Story aus der Welt am Sonntag


    David Martindale atmet tief durch. „Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagt er. „Wenn die Leute mich fragen, werde ich weiter antworten. Du kannst deine Vergangenheit nicht vergessen, du musst dich daran erinnern, wo du herkommst. Und ich werde nie vergessen, dass ich im Gefängnis war. Aber wir haben ein Finale am Sonntag, und danach würde ich gern nur noch über David Martindale, den Fußballtrainer, sprechen.“


    Sonntag also. 15.00 Uhr. Endspiel im schottischen Ligapokal. Der von Martindale gecoachte Livingston Football Club trifft im Nationalstadion Hampden Park auf St. Johnstone. Für den kleinen Verein aus einer Trabantenstadt zwischen Glasgow und Edinburgh ist es die Chance auf den zweiten Titel der Klubgeschichte nach einem Ligapokal 2004. Dabei war er vor vier Jahren noch drittklassig. Der Schlüssel für diesen Erfolg? „Ich!“ Martindale lacht. Schottischer Humor. Aber auch gar nicht so falsch.

    Dieses Finale, es ist zugleich der vorläufige Höhepunkt einer Geschichte von Schuld, Sühne und dem Pranger danach. Von Selbstreinigung und Erlösung. Von der Kraft der Bildung und der helfenden Hand.

    Martindale hat WELT AM SONNTAG seine Geschichte erzählt: Sie beginnt in Govan, dem Glasgower Werftenviertel, wo er 1974 geboren wird. „In Govan gibt es viel Armut“, sagt er. „Die Leute von dort sind immer positiv, obwohl sie materiell nicht viel haben. Mit ihrem Humor kommen sie über die Runden. Sie sind auch sehr direkt. Schwarz ist Schwarz, und Weiß ist Weiß. Sie sagen es, wie es ist.“ Aus Govan kommt auch Sir Alex Ferguson, der größte Fußball-Trainer Großbritanniens überhaupt.

    Später ziehen Martindales Eltern nach Livingston. Die Stadt wurde in den 1960er-Jahren am Reißbrett entworfen, um die Metropolen zu entlasten. „Wohnblöcke und Mietkasernen“, so habe es in seinem Viertel Craigshill ausgesehen. „Wieder eine gute Community, aber wieder eine ohne Geld.“ Martindale hat Talent im Fußball, „aber nicht die Mentalität, etwas daraus zu machen“. Er will nur mit den Freunden abhängen. „Ich hatte nie andere Ambitionen, ich wusste nichts über Universitäten oder wie du einen guten Job bekommst.“

    Aus heutiger Sicht sagt Martindale: „Eine vergeudete Jugend. Ich machte die falschen Dinge. Ich nahm die falschen Abzweigungen.“ Das Umfeld, der Umgang? Schuldzuweisungen gibt es bei ihm nur an sich selbst: „Ich war der falsche Umgang.“

    Martindale führt einen Pub, es gibt einen Brand, die Versicherung will nicht zahlen, er benötigt Geld. „Ich bekam ein Angebot von jemandem, den ich von früher kannte. Ich wusste, dass es um Drogenhandel geht.“ Trotzdem macht er mit. Kokain, in großem Stil.

    Über das Osterwochenende 2004 wird er festgenommen und in Untersuchungshaft gesteckt. Das erste Gefühl: „Scham. Scham darüber, was du getan hast, was du anderen angetan hast.“ Der erste Gedanke: seine Familie, die Partnerin, der Sohn. „Ich wollte ihnen zeigen, dass ich ein guter Mensch sein und es besser machen kann.“ Die ersten Tage: eingesperrt, und ein Polizeibeamter, der sagt, es würden noch viele solche Tage dazu kommen. „Ich saß in der Zelle und dachte: Wie ändere ich mein Leben?“

    Nach Verlassen des Reviers schreibt er sich an der Universität für Bauprojektmanagement ein. Im August 2004 beginnt er zu studieren. Im Oktober 2006 wird er zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass er als rechte Hand eines der größten Drogendealer Schottlands fungiert hat. Martindale plädiert auf schuldig; sonst, sagt sein Anwalt, würde er zehn Jahre bekommen. Er nimmt seinen Geldbeutel aus der Tasche, seine Uhr vom Arm und gibt sie seiner Freundin, die weinend zusammenbricht.

    Nach vier Jahren in Schottlands berüchtigtstem Gefängnis Barlinnie kommt er frei. Der ehemalige Boss wird einen Monat nach seiner Entlassung schon wieder mit dem nächsten Deal erwischt. Aber Martindale bleibt standfest, bricht den kriminellen Kreislauf. Er macht den Abschluss an der Universität und arbeitet auf Baustellen. Dazu kommt bald wieder der Fußball. Livingston gibt ihm die Gelegenheit, unentgeltlich mitzuhelfen.

    „Ich holte Bälle oder stellte Hütchen auf“, sagt er. Der Klub steht kurz vor der Pleite, es ist kein Geld für gar nichts da, und weil Martindale ja vom Bau kommt, wird er auch für praktische Arbeiten eingespannt. „Dadurch lernten die Klubvorstände mich wohl ein bisschen kennen und merkten, dass ich kein schlechter Typ bin.“

    Nach und nach wird er stärker eingebunden, als Co-Trainer und Verantwortlicher für Spielertransfers. Er baut ein Team zusammen, dem der Durchmarsch von der dritten in die erste Liga gelingt. Martindale hat seine Strafe abgesessen, Reue bewiesen und sich erfolgreich im Sport integriert. Eine Bilderbuch-Resozialisierung; die nicht jedem gefällt.

    Schon als er bei Livingston nur am Rande mitwirkt, gibt es Kritik von Antidrogenkämpfern und in der Presse. Seine Uefa-Trainerscheine muss er beim irischen Fußballverband machen, weil ihn der schottische nicht akzeptiert. Noch 2019 weist dieser einen Eignungsantrag als Führungskraft ab. Bereits im Jahr zuvor hat ihn der Verein zum Cheftrainer befördern wollen. Martindale lehnt ab, weil er als Seiteneinsteiger ohne Spielerkarriere spürt, „noch nicht genug Erfahrung für die Premiership zu haben“. Aber auch, weil er dem Klub peinliche Debatten ersparen will.

    Bitternis darüber empfindet er nicht, im Gegenteil: schon fast puritanische Demut, nicht nur gegenüber Livingston, sondern auch gegenüber der Gesellschaft: „Ich bin mit meiner Vergangenheit immer offen umgegangen, ich habe sie nie zu kaschieren versucht. Ich weiß, die Leute werden für den Rest meines Lebens darüber reden.“ Wenn er vielleicht härter arbeiten musste als andere, dann sei das angesichts seiner Vorgeschichte nur normal. „Ich denke, ehrlich und geradeheraus damit umzugehen, ist der beste Weg nach vorn. Sag’ die Wahrheit! Die Schotten sind Menschen, die verzeihen können.“

    Ende November 2020 benötigt Livingston wieder einen Trainer und bestellt Martindale zum Interimscoach. Er gewinnt ein Spiel nach dem anderen und hat keine Argumente mehr, die Beförderung abzulehnen. Nach acht Siegen am Stück kommt erst gegen Spitzenklub Celtic ein Unentschieden. Bald darauf erreicht Livingston das Ligapokalfinale, in der aktuellen Tabelle steht es auf Platz fünf. Martindales Zwischenbilanz: elf Siege, vier Remis, zwei Niederlagen und Auszeichnungen zum Trainer des Monats im Dezember und im Januar.

    Martindale mag Angriffsfußball, „in der gegnerischen Hälfte spielen, den Ball schnell bewegen, mit Leidenschaft und Intensität“. Aber gerade bei einem kleinen Klub müsse man Formation und Taktik an den verfügbaren Spielern ausrichten. Und da gebe es bei Livingston den Vorteil der Kontinuität – seiner Kontinuität. „Die Spieler, die ich trainiere, habe ich selbst rekrutiert.“ Die Doppelfunktion kommt dem Klub zugute, nach seinem Geschmack ist sie sowieso. „Ich genieße es, mit den Spielern auf dem Rasen zu stehen. Aber genauso die Transferfenster mit ihrem ‚wheeling and dealing‘“, dem Schachern auf dem Spielerbasar.

    Sein wichtigstes Match wird jedoch an einem Januar-Dienstag in der Zentrale des schottischen Verbandes am Hampden Park gespielt: der erneute Eignungstest. 17 Jahre nach der Universität, elf Jahre nach dem Staat und ungezählte Beichten später erteilt ihm auch der Fußball die Absolution – die Funktionäre erklären ihn zur „fit and proper person“ für das Traineramt. „Ein neues Kapitel in meinem Leben“, sagt Martindale. „Die letzte Hürde, die ich nehmen musste.“ Endlich kann er ohne Stigma seinen neuen Beruf ausüben.

    Er hat sich als Autodidakt nach oben gearbeitet, viel gelesen, unter anderem alle Bücher von Alex Ferguson. Er glaubt, dass er die Spieler seiner Mannschaft ohne große Finanzmittel vielleicht auch deshalb gut erreicht, weil er „kein privilegiertes Aufwachsen oder ein leichtes Leben mit viel Geld hatte“ wie viele Ex-Profis, sondern eben seine Geschichte. Und er weiß natürlich, dass er als Vorbild gilt für viele, die jetzt in einer Zelle sitzen und sich fragen, ob sie je noch etwas aus ihrem Leben machen können. „Ich bekomme viele Briefe, auch aus dem Gefängnis, und ich beantworte sie.“

    Aber sich als Inspiration zu sehen oder gar Stolz zu verkünden, das würde sich David Martindale nicht erlauben. „Die Hälfte der Geschichte ist gut, insofern kann ich verstehen, dass die Leute sie mögen. Aber die andere Hälfte bleibt beschämend, schlecht, negativ“, sagt er. „Ich möchte nur nach vorn schauen und meinen Job machen.“ Heute, in Livingstons größtem Spiel seit 2004: dem Jahr, als sein neues Leben begann.

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